Der Traum - ein paralleles Leben

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little pearls
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Der Traum - ein paralleles Leben

Beitrag von little pearls »

Der Traum – ein paralleles Leben

„ In diesem Leben, in dem ich mein Schlaf bin, bin ich nicht mein eigener Herr“. ( Fernando Pessoa)
Wie ein leichter Schleier ist der Traum und doch sind die Emotionen darin so intensiv wie im realen Leben. Träume sind die Begleiter auf unseren Etappenreisen ins Unterbewusste und ins Unbewusste und sie sind so individuell verschieden wie unsere Wahrnehmungen von der Wirklichkeit. Manchmal wiederholt der Traum nur die Erfahrung des Tages, andere Male öffnet er sich ungeahnten Perspektiven und fast immer verflüchtigt er sich, wenn wir aufwachen und lässt eine vage Empfindung von Sehnsucht und Frustrierung zurück. Andere Male sind in uns noch subtilere Energien am Werk und lenken den Traum in unbekannte Dimensionen. Dann ist es, als ob sich uns ein kleines Fenster auftun würde in eine fremde und faszinierende Welt.
Im Traum erscheinen uns Verstorbene als ob sie im Hier und Jetzt seien und wir selbst sehen uns wieder als Kinder, sind aber gleichzeitig Kinder und Erwachsene die sich als Agierende und als Zuschauer erleben. Wir sprechen Sprachen, die wir nicht kennen und manchmal kann es passieren, dass wir neue Antworten auf unsere ängstlichen Fragen finden oder unverhoffte Lösungen für Probleme, die uns ohne Ausweg schienen.
Es ist immer noch ein Rätsel, warum unser Unterbewusstsein unter den vielen Eindrücken eine bestimmte Situation oder Ereignisfolge wählt, denn die Vielfalt der Traumbilder ist nicht nur voller Überraschungen, sondern auch verwirrend voll von oft absurden oder befremdenden Assoziationen.
Etwas was den Traum aber besonders vom realen Leben unterscheidet, ist die darin oft auftretende Befreiung vom Begriff Zeit. Unsere Vorstellung von der Zeit erfährt hier ein Kontinuum; wie in einer Parallelwelt gehen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander über. Erfahrungen aus der Vergangenheit, die wir überwunden zu haben glauben, präsentieren sich, so als ob sie gerade gemacht würden und das mit einer Häufigkeit und Schärfe, die uns sagen will, dass in der zeitbefreiten Sphäre unserer Seele nichts verloren geht, alles kommt immer wieder und zwar solange bis wir nicht den Blickpunkt total gewechselt haben und in eine neue Phase hinein gewachsen sind.
Es sind geistige Präsenzen, die unsere Erfahrungen modifizieren, vergrößern oder vereinfachen und sie dann auf das Riesenrad der Emotionen befördern. Sie vernetzen sich ständig mit unserer Lebensgeschichte und reflektieren vergangene Erlebnisse in der Optik des gegenwärtigen Empfindens.
Verschleiern oder aufdecken, symbolisieren oder verdrängen, kompensieren oder verschieben, verarbeiten oder komprimieren; der Traum liebt die Verkleidungen und das Spiel mit den unerschöpflichen Fragen rund um unser Ich in der Beziehung zum Anderen.
Im Laufe des Lebens verändert sich der Stoff der Träume und in seiner Bildersprache spiegelt sich der diachronische Aspekt des Bildes von unserem eigenen Selbst.
So kommen in unseren Träumen wie in einem Zauberspiegel alle Etappen zum Vorschein, die wir auf dem steinigen und gewundenem Weg unserer psychischen Evolution durchlaufen haben oder noch durchlaufen.
Eine Traumbotschaft kann mit einer Geheimschrift vergleichen werden, die wir oft nur zum Teil entziffern können, auch weil der Traum uns so oft gleich nach dem Aufwachen wieder entfällt, es sei denn, es gelingt uns im selben Moment des Wachwerdens diesen ewig Flüchtenden im Gedächtnis zu fixieren. Die Hirnforschung erklärt dieses sofortige Vergessen mit der Hypothese, dass unser Hirn die Traumdaten sofort löscht um zu verhindern, dass wir das Geträumte für „real“ halten, denn dies könnte sich mit unvorstellbaren Konsequenzen auf unser Verhalten auswirken. Leider gehen in dieser, für das seelische Gleichgewicht, notwendigen „Aufräumarbeit“ auch wertvolle Daten aus dem Unterbewussten verloren, weil es dem Hirn nicht gelingt a das Wichtige vom Unwichtigen heraus zu filtern.
Es ist demnach alles eher als leicht eine Brücke zwischen dem sich verflüchtigenden Stoff der Träume und dem der Realität des täglichen Lebens zu bauen, aber der Versuch lohnt sich, denn die kreative Kraft der Träume ist ein wertvolles Mittel, um in die geheimen Verließe unseres unbewussten Ichs ein zu dringen und sein Wechselspiel zwischen Gedanken die sich in Bildern verbergen und den Bildern, die Gedanken verkörpern zu verfolgen.
In seinem Buch „ IL LIBRO DIE LABIRINTI“ setzt der Autor Paolo Arcangeli den Traum mit der Erbauung der von den Menschen geschaffenen Irrgärten in Verbindung. Im Irrgarten wie im Traum drückt sich die uralte Angst des Menschen aus, sich zu verirren oder Opfer von Ereignissen zu werden, die sich seiner Kontrolle entziehen.
„Es gibt niemanden der nicht schon einmal geträumt hätte sich auf den Weg zu einem bestimmten Ort zu machen und Hindernisse aller Art auf seinem Weg gefunden zu haben,“ Und das Labyrinth in seinen verschiedenen Formen deutet eindrucksvoll diesen Weg voller Hindernisse, den uns das Leben bereit hält, ebenso wie die manchmal verzweifelte und erschöpfte Suche nach dem Ausgang, die wiederum als Sinnbild für die Suche nach einem Ziel im Leben gilt. Ein Ziel das im Leben sich auch ändern kann und sich nicht selten ändert, genau so wie die Form und der Verlauf des Labyrinths sich verändern, sobald wir die Richtung wechseln.
Doch der Traum ist auch unberechenbar und launisch, er kann uns auch alte Erfahrungen in einem neuen Mix präsentieren, wo lauter Fragmente uns hindern seine Botschaft zu entschlüsseln. Manchmal sind es Verflechtungen von Wünschen und verpassten Gelegenheiten, die sich in einem unaufhörlichen Fluss dahin ziehen und beim Aufwachen bleibt in uns ein Gefühl von der Unzulänglichkeit unseres Tun zurück.

Jahrelang träumte ich den Zug zu versäumen; ich erreiche den Bahnhof in letzter Minute, aber der Zug ist entweder schon abgefahren, oder der Fahrplan war falsch, oder ich habe den Koffer daheim vergessen und kann nicht wegfahren… Die Angst im Traum zeigt mir, dass ich nichts versäumen möchte, aber mich oft den Aufgaben nicht gewachsen fühle. Immer wieder gibt es neue Situationen und immer wieder muss ich bereit sein die Zeit so gut wie möglich zu nützen. Dann, eines Tages ist dieser Traum nicht mehr „aktuell“. Ich habe also, ohne mich dessen bewusst geworden zu sein, eine Lebensphase abgeschlossen.
Der „Traum der verhinderten Pilgerschaft“ wie es Arcangeli definiert, wird auf verschiedene Arten zur Metapher unserer Lebensreise, die in ihrem Verlauf immer wieder von Veränderungen bestimmt wird.

Die Wirklichkeit… Das was wir als Wirklichkeit annehmen ist für die tibetanischen Mönche wiederum eine Illusion…Sie praktizieren den Bardo, der als verlängerter Traumzustand betrachtet wird, worin der Adept aufgrund seiner geistigen Evolution seine eigene Reinkarnation bestimmt oder im Idealfall die Erleuchtung erreichen wird. Aber um die Erleuchtung zu erreichen und ins Nirwana ein zu treten, müssen die verschiedenen Stadien der geistigen Existenz durchschritten werden. Besonders faszinierend ist, die im Bardo angestrebte Kontrolle über die Träume, dieser Aspekt liefert uns einen wichtigen Baustein zum großen lückenhaften Puzzle „ Traum“.

Die Möglichkeit seitens des Träumers den Trauminhalt zu verändern, wird seit Menschengedenken angestrebt und beinhaltet den wesentlichen Teil des geistigen Reifeprozesses der im tibetischen Bardo zur Erleuchtung führt.

Unter der Anleitung des geistigen Lehrers, lernt der Mönch seinen Traum zu beherrschen, indem er im Schlaf wie im Wachzustand luzide bleiben soll … Sobald der Adept den Traum als Illusion begriffen hat, muss er sich darauf konzentrieren und ihn festhalten. Dazu muss er immer achtsam und bewusst bleiben. Wie wir alle wissen besteht die Schwierigkeit darin zu verhindern, dass der Traum sich sofort verflüchtigt. Schließlich soll der Adept erreichen den Trauminhalt unter Kontrolle zu behalten. Wenn er diese Aufgabe erfüllt hat, wird ihm von seinem Meister eine neue Aufgabe zugeteilt. Jetzt soll er in seinem Traum über die verschiedenen, grandiosen Reiche des Buddha meditieren und überlegen wie er in sie eintreten kann. Mit diesem Ritual der Initiation, das man als Zeremonie der Trauminkubation bezeichnet (die schon im Altertum praktiziert wurde), wird der Träumer die außerirdischen Reiche sehen, weil es ihm gelungen ist den Trauminhalt willentlich zu steuern. Wenn er an diesem Punkt angelangt ist, wird sein Meister von ihm verlangen, dass er einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis macht.
Dieser Schritt besteht darin, die Traumgestalten der Gottheiten auf derselben Ebene wie alle sich bereits als illusionär erwiesenen Traumfiguren als pure Sinnestäuschung zu erkennen. Um diese Sinnestäuschungen zu entlarven, muss er sich zur Überzeugung durchringen, dass alle Dinge in ihrem Wesenskern sich vom Stoff der Träume nicht unterscheiden.
Diese Gleichstellung zwischen Illusion des Traumes und „realer Wirklichkeit“ ist das, was ich als Brücke zwischen dem „Sein und dem Nicht Sein“ betrachte, aber der Adept im Bardo geht noch viel weiter. Durch das Meditieren über die Trauminhalte und die von ihm erreichten Verwandlungen des Geträumten, kann er einen „gedankenfreien“ Bewusstseinsgrad und letztendlich die Sicherheit erlangen, dass die Natur des Traumes, ebenso wie die Natur des Wachseins nichts Anderes sind als der Stoff aus dem die Illusionen entstehen.
Die Erkenntnis, dass beide Bewusstseinsstadien illusionär sind, obwohl sie sich in scheinbarer Opposition befinden, hilft dem Meditationsschüler auf dem langen Weg, dessen Ziel in die Lehre vom reinen Licht, ins Nirwana führt.

Von Unsichtbaren zum Sichtbaren, vom Traum zur Kunst

Aber kommen wir zum Traum an sich zurück. Die Freiheit in der Traumwelt entzieht sich sehr oft jeglicher Definition. In dieser Welt gelten nicht die Gesetze der Schwerkraft, die Perspektiven sind auf dem Kopf gestellt und die Formen bewegen sich wie in einem luftleeren Raum. Auch die gewöhnlichsten Dinge zeigen sich oft in einer gänzlich neuen Sichtweise,
Eng miteinander verbunden sind Traum und Mythos, denn nur aus einer Vision entsteht eine neue „Verkündigung“, ein neuer Versuch um das Geheimnis von Leben und Tod zu interpretieren. James Hillman schreibt über die subtilen Verbindungen zwischen dem Realen und Irrealen.
„ Unsere religiösen Überzeugungen trennen den Himmel und die Erde, dieses Leben und das andere, unser philosophisches Denken trennt den Geist von der Materie; Religion und Philosophie haben zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren einen Abgrund gegraben.“
Wie können wir also eine Brücke über dem Abgrund bauen? Welche Mittel haben wir, um das Unsichtbare ins Sichtbare zu „übersetzen“. Oder auch umgekehrt das Sichtbare ins Unsichtbare… Für Hillman sind es die drei traditionellen Brücken: die Mathematik, die Musik und die Mythen.
Ich würde die Kunst hinzufügen; die Kunst als Schöpfungsakt, der zugleich Spiel, Selbstanalyse und Selbsttherapie ist, aber auch Botschaft und vielfältige Manifestierung eines parallelen Lebens im „Tagtraum“ des Schaffenden. In der Kunst, wie im Mythos oder im Traum verwandelt die kreative Fantasie die ihr zur Verfügung stehenden Daten, oder stellt sie einfach auf den Kopf, um eine neue Sichtweise zu erzeugen. Sie spielt unentwegt mit den Bedeutungen und wie ein Schauspieler auf der Bühne liebt sie alle möglichen Verkleidungen und fordert die verschiedensten Interpretationen heraus. Die Kreativität, die wie der Traum sich alle möglichen Verwandlungen emotional oder rational zu eigen macht, erweist sich gleichermaßen als komplex und einfach und ebenso wie der Mythos verweist sie auf ein unausgeschöpftes Potential, das sich dem rationalen Denken entzieht.
In der Kunst können die Fantasiegeschöpfe des Traums sich in aller Freiheit bewegen und wie im Mythos verbündet sich auch hier das Reale mit dem Irrealen, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren und findet seinen Ausdruck in dem erfinderischen Schaffen wie in einem großen Spiel, das befreiend wirkt und in seiner Ambition nach Individualisierung die immense Komplexität der Existenz untermalt.

Roland Förster
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Re: Der Traum - ein paralleles Leben

Beitrag von Roland Förster »

Traumvoll.- Wunderbar ge- und beschrieben. :D Danke Christine.

little pearls
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Registriert: Sa 17. Sep 2011, 13:15
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Re: Der Traum - ein paralleles Leben

Beitrag von little pearls »

Roland Förster hat geschrieben:Traumvoll.- Wunderbar ge- und beschrieben. :D Danke Christine.
Danke Dir, Roland und da ich in 2 Tagen verreise, auch noch ganz herzliche Weihnachtsgrüße und Wünsche

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