Felicita und der verlorene Koffer, Christina Matha

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little pearls
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Felicita und der verlorene Koffer, Christina Matha

Beitrag von little pearls »

Felicita und der verlorene Koffer

Am Wiener Flughafen. Endlich stand Felicita Fernandez an der Gepäcksausgabe und wartete geduldig auf ihren Koffer. Auf dem Transportband rollten sie heran, große und kleine Koffer aus Hartplastik, die einen elegant, andere sportlicher, dann wiederum die vielen Trolleys und schließlich die großen Rucksäcke. Alle fuhren an ihr vorbei, wurden herausgenommen und verstaut, nur ihrer kam und kam nicht, derblaue teure Markenkoffer den Felicita in Lima noch schnell gekauft hatte.
Für ein paar ewig lange Minuten stand das Fliessband sogar still. Dann setzte es sich wieder in Bewegung und es trudelten noch ein paar einsame Nachzügler ein, bis schließlich alle Passagiere ihres Fluges das Gepäck verstaut hatten und im Menschenstrom untertauchten.
Zurück blieb die kleine Frau im gestrickten Poncho mit einer großen Umhängetasche; sie wartete noch eine Weile unschlüssig vor dem Fließband, bis sie sich schließlich aufraffte und auf den Informationsschalter zusteuerte.
Zu dumm; auf dem Kofferetikett hatte sie nur ihre Heimatadresse von Lima aufgeschrieben; die neue Adresse wo sie fürs erste Unterkunft finden würde, stand nicht drauf. In all der Aufregung vor der Abreise hatte sie vergessen, sie auf das Etikett zu schreiben. Wer hätte schon gedacht, dass sie ihren Koffer verlieren würde? Hier, in Europa war doch alles viel geregelter und ordentlicher als bei ihr daheim am anderen Ende der Welt… Am Schalter sagte man ihr, in einem komisch klingenden Spanisch, sie solle auf dem vorgelegten Formular die Adresse ihres Hotels schreiben, der Koffer würde ihr nachgeschickt werden. Aber Felicita hatte zwei Hoteladressen in Italien, die sie nur herausgesucht hatte, um ein Visum für Italien zu bekommen, und hatte nicht die geringste Absicht in irgendein Hotel zu ziehen. Sie war gekommen, um hier Arbeit zu suchen und nicht, um die Touristin zu spielen.
Egal, sagt sie sich und beißt sich in die Unterlippe; wer seine alte Welt verlässt, um neu anzufangen, kann auch ohne Gepäck auskommen. Vielleicht war es ein Zeichen vom Himmel, das bedeutete; Feli, du musst Alles aufgeben, du musst auf deine Vergangenheit verzichten und einfach nur mit dem was du auf dem Körper trägst, dein neues Leben starten.
Noch eine lange Bahnfahrt stand ihr jetzt bevor. Von Wien nach Venedig waren es zehn Stunden oder mehr, aber ihr alter Optimismus kam wieder zurück, wenigstens hatte sie keinen schweren Koffer mehr zu schleppen, auch ein Vorteil. Das Allernötigste war in der Umhängetasche verstaut und Geldbörse samt Papieren trug sie gesichert in einer kleinen Gürteltasche auf der Haut.
Die Bahnfahrt verging dann eigentlich schneller als gedacht; in ihr Abteil kamen ein paar junge Spanier, die auf Europatrip waren und unterhielten sich mit ihr über das Leben in Südamerika. Dann erzählte ihnen Felicita von ihrer langen Flugreise, das billige Ticket das sie über die halbe Welt geschaukelt hatte, war im Grunde so billig nicht gewesen, die Umsteigungen hatten sie um ihren Koffer gebracht, der wer weiß wo, stecken geblieben war. Sie selbst musste mit ihren Mitreisenden lachen, als sie zusammen überlegten, was mit dem Koffer passieren würde, den sie nicht mehr abholen konnte.
Sie malte sich aus, wer schließlich bei der Versteigerung des nie abgeholten Gepäcks ihn aufmachen würde und darin unter Kleidungsstücken, Schuhen und Unterwäsche eine Menge peruanischer Schokolade für die Momente des Heimwehs, ihr liebstes Plüschtier, und das Photoalbum ihrer vielköpfigen Familie finden würde und von all den Sachen, die für sie wichtig gewesen wären, vielleicht nichts brauchen konnte. Aber so war das Leben und es hatte keinen Sinn sich darüber zu ärgern; Ärger macht höchstens krank und ändert nichts am Missgeschick.
Leider kommt ein Missgeschick selten allein, und ihr Zug erreichte den Bahnhof S. Lucia in Venedig mit beträchtlicher Verspätung. Es stellte sich heraus, dass der letzte Zug Richtung Brenner eben erst abgefahren war. Bis zum nächsten Morgen gab es keine Verbindung mehr. Es war elf Uhr nachts und so blieb ihr nur der Wartesaal, wo außer ihr ein paar Ausländer, deren Herkunft sie nicht ausmachen konnte, müßig herumsaßen. Sie war gerade dabei einzunicken, als um Mitternacht ein Bahnpolizist hereinkam und ihr und den anderen wortreich bedeutete, dass sie gehen mussten, weil der Wartesaal über Nacht geschlossen wurde.
Felicita, die nur ein paar Wörter Italienisch verstand, fragte auf spanisch nach einer Hoteladresse, der Polizist verstand sie zwar, schüttelte aber mitleidig lächelnd den Kopf. Es war Ende Mai und Venedig war ausgebucht, außerdem war es viel zu spät, um noch ein Zimmer ausfindig zu machen. „Tutto pieno“ wiederholte er mehrmals und das war nicht schwer zu verstehen, tutto pieno ähnlich wie todo lleno, also besonders schwierig war italienisch ja gar nicht, dachte sie. Da war sie nun, in der Lagunenstadt, von deren Zauber alle Welt schwärmte, aber sie war nur müde und hungrig und hatte keinen Blick für die schöne neue Welt.

Ziellos ließ sie sich von einer Gruppe Touristen treiben, die sich in Richtung einer der vielen Brücken hinbewegte. Felicita wurde bald von einem jungen Italiener mit struppigen Rastazöpfchen aufgehalten, der von ihr Geld für Zigaretten verlangte und als sie den Kopf schüttelte, und auf spanisch sagte, sie hätte kein Kleingeld bei sich, motzte er frech, was sie dann in Italien treibe, wenn sie kein Geld habe, „cretina“, bleib`in deinem Land“, schimpfte er und Felicita verstand die Wörter „paese“ und „cretina“ und reimte sich den Rest zusammen. „Das fängt ja gut an“ sagte sie sich, aber jetzt stand sie da und ihr Zuhause war weit weg, am anderen Ende der Welt.
Die Touristen steuerten auf eine Anlegestelle für die „vaporetti“ (die sogenannten Wasserbusse) zu, und hier in der überdachten Wartestelle fand Felicita endlich eine Sitzgelegenheit. Aber das starke Schaukeln, wenn ein vaporetto ankam und wieder abfuhr, hinderte sie am Einschlafen und sie döste zwischen Wachen und Schlafen, immer wieder unterbrochen vom Kommen und Gehen der lärmenden Fahrgäste. Es war glücklicherweise eine bereits vorsommerlich laue Nacht und sie kuschelte sich unter ihrem Poncho wie unter einer warmen Decke. Die vaporetti fuhren die ganze Nacht und inmitten der vielen Menschen fühlte sie sich in Sicherheit. Ein junger Mann, der ihr gegenüber saß, hatte angefangen sie zu beobachten. Von seinem Aussehen her hatte sie ihn bereits als Latino erkannt, und rätselte über sein Heimatland.. Nach einer Weile stand der junge Mann auf und kam lächelnd auf sie zu. Er stellte sich als Carlos aus Mexiko vor und fragte sie teilnahmsvoll, was sie hier ganz allein in der Nacht machte. Felicita erzählte, sie sei nach dem Norden Italiens unterwegs, eine dort ansässig gewordene Freundin habe ihr gesagt; in den reichen Städten Norditaliens gäbe es gut bezahlte Arbeit in der Altenpflege und das Geld, das sie dort verdienen konnte, war in Soles umgerechnet eine Menge Geld, davon konnte sie auch ihrer Familie in Lima weiterhelfen. Carlos stimmte ihr zu, er hatte Verona gewählt und arbeitete in einer Transportfirma, seine Frau war Italienerin, und über das ganze Gesicht strahlend, fügte er hinzu, in wenigen Wochen komme sein erstes Kind hier zur Welt. Er hatte in Venedig ihre Verwandten besucht und ebenfalls den Nachtzug versäumt, aber eine junge Frau wie sie und so ganz allein, das sei auch in Italien nicht ungefährlich. Felicita lachte übermütig, ich bin stark, meinte sie, auch wenn ich klein bin und werde mich schon wehren, wenn es sein muss. Dabei blitzten zwei Reihen blendend weißer Zähne mit ihren schwarzen Augen um die Wette und ihre Heiterkeit ließ Carlos Augen ebenfalls aufleuchten. Sie war erleichtert so schnell einen von „ihren Leuten“ getroffen zu haben und nun schwatzten sie die ganze Nacht lang über ihre Familien und ihre Zukunftspläne . Beim Morgengrauen verabschiedete sich Carlos von ihr und schrieb ihr seine Handynummer auf. Ihr Zug fuhr erst ein paar Stunden später und Felicita vertrieb sich die Zeit dazwischen mit einem ausgiebigen Frühstück; danach fühlte sie sich bereit ihr neues Leben in Italien anzupacken. Der junge Mann, der sich bereits eingelebt hatte, war der erste Beweis, dass auch sie es hier schaffen konnte. War sie nicht losgefahren, um zu sehen wie es am anderen Ende der Welt aussieht? Felicita dachte an ihren geliebten Vater zurück, was würde er jetzt sagen, wenn er sie hier sehen könnte? Auch er hatte sich vom Fernweh verleiten lassen, für fast vier Jahre war er nach Argentinien gezogen, und hatte ihre Mutter mit ihr, der erst Vierjährigen allein gelassen. Die kleine Felicita hatte schon vergessen, wie ihr Vater aussah, als er eines Tages an der Haustür klingelte und nach ihrer Mutter fragte. Über die Jahre in Argentinien erzählte er seiner Tochter nichts, er war zurückgekommen und das musste ihr genügen.
In den Bergen, wo das Leben zwar billig, aber auch mühselig war, hatte er mit dem ersparten Geld ein kleines Landgasthaus mit Wohnung und Grundstück gekauft und in nur zehn Jahren Ehe weitere sieben Kinder gezeugt. Er war immer ein bisschen leichtsinnig gewesen, voll übermütiger Lebenslust, und einem unverwüstlichen Humor. Mit fünfundvierzig Jahren hatte er nach einem kleinen chirurgischen Eingriff, die Vorschrift seines Arztes nicht befolgt und war an den Folgen eines Trinkgelages gestorben, nicht ohne vorher seiner liebsten Tochter aufzutragen, dass sie als Älteste sich nun um die kleinen Geschwister zu kümmern hatte. So war Felicita zur Stütze der Familie geworden und hatte sich bereitwillig für ihre Brüder und Schwestern aufgeopfert. Als Älteste war sie von klein auf gewöhnt, hart zu arbeiten und tat es jahrelang ohne zu murren. Dann, eines Tages, sie hatte sich gerade von ihrem Freund getrennt, überkam sie das Fernweh und erst als sie die nötigen Dokumente beisammen hatte, teilte sie beim gemeinsamen Abendessen ihrer Familie mit, dass sie für ein paar Jahre gehen wollte. Alles Zureden half nichts. Felicita wollte weg, es fließt Emigrantenblut in meinen Adern, sagte sie und dagegen könne man nichts tun. Frauen sind zäh, das wusste sie von klein auf und sie würde nicht eher in ihre Heimat zurückkehren, bevor sie genug Ersparnisse auf die Seite gebracht hätte, um in Lima ihr eigenes Geschäft aufmachen zu können. Vielleicht aber, würde sie auch in Italien bleiben und dort ihre eigene Familie gründen, alles war möglich und für Felicita stand fest, Hauptsache, ich schaffe es ohne Hilfe von daheim. Man reist nicht vierzehn Stunden lang, um bei den ersten Schwierigkeiten das Handtuch zu werfen.
Nein, auch eine kleine Frau Mitte dreißig konnte sich durchbeißen und sie würde es mit dem Lieblingsspruch ihres Vaters halten, der immer gesagt hatte, wenn man sich vom Leben nicht unterkriegen lassen will, dann muss man „den Stier nicht nur an den Hörnern, sondern auch am Schwanz festhalten“. Jetzt fielen ihr seine Worte wieder ein und sie dachte; „gut, jetzt habe ich ihn an den Hörnern gepackt, wo der Schwanz ist, das werde ich schon noch herausfinden.“


Christine Matha

Roland Förster
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Re: Felicita und der verlorene Koffer

Beitrag von Roland Förster »

Es bereitet mir wieder und wieder große Freude Dein
*Felicita und der verlorene Koffer*
zu lesen. :D

Gerne wüßte ich dazu noch mehr ...........
Wie es wohl weiter geht mit Felicita?

.-)

PyramidLaunchCrew
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Re: Felicita und der verlorene Koffer

Beitrag von PyramidLaunchCrew »

Welch´Freude, Christine, Dich nun auch hier zu lesen...zu *erleben*. :D

Liebe Grüße,
Robert Schrem

little pearls
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Registriert: Sa 17. Sep 2011, 13:15
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Re: Felicita und der verlorene Koffer

Beitrag von little pearls »

Roland Förster hat geschrieben:Es bereitet mir wieder und wieder große Freude Dein
*Felicita und der verlorene Koffer*
zu lesen. :D

Gerne wüßte ich dazu noch mehr ...........
Wie es wohl weiter geht mit Felicita?

.-)
ja, sie ist in Brixen gelandet und auch hier hat sie Einiges erlebt. Vielleicht schreibe ich wieder mal was über die quirlige Freundin aus Peru`. Liebe Grüße

little pearls
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Re: Felicita und der verlorene Koffer

Beitrag von little pearls »

PyramidLaunchCrew hat geschrieben:Welch´Freude, Christine, Dich nun auch hier zu lesen...zu *erleben*. :D

Liebe Grüße,
Robert Schrem
Lieber Robert, freut mich sehr, dass hier einige von uns sich wiederfinden ;) Liebe Grüße

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