Zugverspätung, Christine Matha

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little pearls
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Zugverspätung, Christine Matha

Beitrag von little pearls »

Zugverspätung

Bahnhof, die Welt in der ich zugleich daheim und nicht daheim bin. Abreisende, Ankommende, Leute die vorüber eilen, Taschen, Koffer, Einkaufstüten. Mein Zug hat Verspätung. Verspätung wie so Vieles im Leben. Auch das Ende einer traurigen Liebesgeschichte verspätet sich und lässt den Druck auf dem Herzen steigen und steigen. Dabei tue ich, als ob alles normal liefe, rede mit Leuten über Zukunftsprojekte, an die ich aber nicht so richtig glaube. Aber ich weiß man muss das glauben immer wieder üben, das ist so wie ein Training der Gehirnzellen. Soll ja auch helfen, wenn man sich jeden Tag vorsagt: es geht mir besser und immer besser…
Ein Güterzug donnert vorbei. In meinen jungen Jahren wurde ich, wenn so ein Zug mit hoher Geschwindigkeit am Bahnhof vorbei dröhnte, öfters von einem mir unheimlichen Drang übermannt, ich wünschte mir soviel Mut zu haben mich unter den fahrenden Zug zu werfen. Nicht aus irgend einer bestimmten Verzweiflung heraus, sondern einfach nur deswegen weil ich schon lebensmüde war ohne überhaupt viel erlebt zu haben. Mit dem älter werden verflog dieser Drang, nur in bestimmten Situationen kam er wieder zurück und diesmal hätte ich die Gründe aufzählen können. Aber etwas hält mich immer zurück. Vielleicht ist es nur das Wissen, dass alles zwar sinnlos sein kann, aber dass es in sich selbst nie sinnlos ist, ich allein bestimme über die Sinngebung und ich habe mich schon so oft geirrt und werde mich auch in Zukunft wieder und wieder irren.
Es wäre schön wenn es ein leichter Abschied wäre, aber wer kann schon sagen wann der Abschied leicht fällt?
Also geht das Warten weiter. Warten ist eine große Kunst, die man sein ganzes Leben lang üben muss und meistens beherrscht man diese Kunst eher stümperhaft.
Dazu kommt dass man sich mit den Anderen vergleichen muss, nicht alle müssen immerzu warten. Es gibt auch solche, die vom Leben verwöhnt werden, denen Vieles in den Schoß fällt, ohne dass sie darauf gewartet hätten. Vergleichsweise fühle ich mich wie das Geschöpf eines minderen Gottes, das sich mit Mühe die Brosamen zusammensuchen muss, die vom Tisch des Überflusses auf den Boden fallen.
Und mein Zug ist immer noch nicht da; Verspätung zu Verspätung.
Aber daheim wartet ja niemand auf mich, höchstens meine Katze.
Es ist Anfang Dezember und die Stadt ist bereits weihnachtlich geschmückt, früher mochte ich diese Vorweihnachtsstimmung, jetzt macht sie mich ärgerlich und depressiv.
Endlich fährt mein Zug ein und ich bin froh ins warme Abteil zu kommen. Die Landschaft ist verschneit und ich denke, das ist ja auch alles vergänglich. In spätestens vier Monaten wird sie sich wieder anders zeigen und das sollte mich trösten. Warum wollen wir uns immer ewig denken und an die Dauer der Gefühle glauben? Was Liebe scheint, ist oft nur Machtgier, das Ich welches im Du sich selber glorifiziert und dann wenn der Lack der Verliebtheit abgekratzt ist, wird der vermeintlich Liebende ein Hassender der Rache sucht.
Mir gegenüber sitzt ein junges Paar, sie schauen sich gemeinsam einen Stadtplan an und er legt dabei zärtlich den Arm um das junge Mädchen. Danach holt sie aus ihrem Rucksack zwei belegte Brote und eine Flasche Mineralwasser. Der junge Mann sagt, er habe jetzt keinen Hunger und schaut sie verliebt an. Sie lächelt verschmitzt und beißt in ihr Brot. Die beiden sind wie in einer anderen Welt, was um sie herum ist, interessiert sie überhaupt nicht. Ich glaube, die sind jetzt am Anfang eines langen Weges und haben auf ihrer Seite die Begeisterung, die man für jeden Anfang geschenkt bekommt und als gerade da der Zug in einen langen Tunnel eintaucht, denke ich wieder, so ist es, in regelmäßigen Abständen gibt es immer wieder ein bisschen Licht, gerade soviel, um nicht ganz in der Verzweiflung unterzugehen und das Ende des Tunnels kommt ohne Zweifel. Weil alles einen Anfang hat, muss es auch ein Ende geben. Und den langen Bindestrich zwischen Anfang und Ende zieht das Warten.

Roland Förster
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Registriert: Mo 2. Aug 2010, 14:58

Re: Zugverspätung, Christine Matha

Beitrag von Roland Förster »

Das ist wieder wahrhaftiges Leben.
So wunderbar in Deine exklusiven
Worte und Sätze gekleidet.

Tone - Phantom - Weit gekommen
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Unser Sein. Welch ein Lebens- und Liebensgeflecht.
Liebe Grüße Roland

little pearls
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Registriert: Sa 17. Sep 2011, 13:15
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Re: Zugverspätung

Beitrag von little pearls »

Lieber Roland, deine Worte erhellen mir den Montag! Ja, so ist es: ein Lebens -und Liebensgeflecht, in dem man oft ohne es zu wollen, oder besser gesagt ohne es zu wissen in Verflechtungen gerät, die erdrückend sein können, wenn man sich nicht durch die Selbstanalyse aus ihnen so weit löst, wie es einem möglich ist.
Danke Dir ganz herzlich für Dein Mitfühlen, das tut so richtig gut!
Ganz liebe Grüße aus der Kleinstadt
Christine

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