Dieter Gropp: Der Wind verweht nicht jede Erinnerung…

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Diegro
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Registriert: So 19. Dez 2010, 19:23

Dieter Gropp: Der Wind verweht nicht jede Erinnerung…

Beitrag von Diegro »

„Zieh schnell den Mantel an!“. Die aufgeregte Stimme meiner Mutter hatte große Mühe, mein vor Angst wild schlagendes Kinderherz zu übertönen. Der Mantel, den mir Mutter mit zitternden Händen reichte, war tropfnass und klatschte kalt gegen meine zaghaft hin gestreckten Hände.
Durch die Ritzen der Kellertür, die sich eben hinter dem nachklingenden Kommando des Luftschutzwartes geschlossen hatte, drang ein Gemisch aus Rauch und Staub und reizte zu Husten.
„Der Keller ist sofort zu verlassen - Einsturzgefahr!“, hatte er von der Tür her gebrüllt und: „Draußen regnet es Phosphor, zieht nasse Klamotten an! Raus aus dem Keller, aber dalli!“
Das phlegmatische Unbeteiligtsein wich einer nervösen Geschäftigkeit im von wenigen Kerzen erhellten Ziegelgewölbe des Luftschutzkellers.
Wie oft hatte mir meine Mutter in den letzten Monaten die drei Buchstaben „LSR“ die mit einem Richtungspfeil an jeder Hauswand leuchteten, gezeigt und mich ermahnt, beim ersten Heulen der Sirenen sofort diesem Zeichen zu folgen und in den nächsten Luft-Schutz-Raum zu flüchten.
Die Sirenen heulten oft in den letzten Kriegswochen des Jahres 1945 und oft folgte nur endloses Warten in den Zufluchtsstätten der Mietshaüser. Meistens geschah nichts und die meisten Leute wurden von einer trägen Gleichgültigkeit
ergriffen.
Heute war alles anders!
Von draußen kamen aufgeregte Leute in den Keller gehastet. „Draußen stehen Christbäume am Himmel!“ – damit waren die Markierungs-Leuchtkugeln der
Aufklärungsflugzeuge gemeint, die den Bombenflugzeugen die Ziele wiesen.
Bald darauf erschütterten erste gar nicht ferne Detonationen die Kellermauern und ließen den Putz von den Wänden rieseln.
Es wurde immer lauter draußen und in die Explosionen mischten sich kommandierende und auch nach Hilfe rufende Stimmen.
Meine Geburtsstadt Chemnitz begann, im Flammenmeer der alliierten Brandbomben an diesem 5. März 1945 in Schutt und Asch zu versinken.
Heute, an diesem Tag nach 65.Jahren waren dies Ereignisse dieser schrecklichen Nacht auf einmal sehr gegenwärtig. Ich erlebte sie beinahe zum soundsovielten Mal wieder, als wären sie eben geschehen.
Wie ich an der Hand meiner Mutter aus dem Keller kam, weiß ich heute nicht mehr. Dafür ist mir besonders in Erinnerung geblieben, wie wir durch den Feuerregen hasteten mit unseren nassen Mänteln und unverletzt die nahe Eisenbahnbrücke, die sich über die Straße wölbte, erreichten. Unter der Brücke gab es einen Grünwarenladen in einer besseren Bretterbude und die Gemüsefrau verteilte ihre letzten Vorräte an die Fluchtenden. „Nehmt, Leute! Hier kommen wir sowieso nicht lebend raus!“ Wie zur Bestätigung ihrer Worte flog mit erschütternden Detonationen die Tankstelle am anderen Ende der Brücke in die Luft! Bomben, mit denen die Brücke zerstört werden sollten, hatten ihr vernichtendes Werk an der Tankstelle vollzogen…
Wie lange wir unter der Brücke ausharren mussten, weiß ich nicht mehr.
Erinnern kann ich mich noch gut daran, wie gegenüber ein Haus langsam von den Flammen gefressen wurde. In ein Fenster konnte ich schauen, sah zuerst auflodernde Flammen hinter den zerbrochenen Sacheiben, die an der Gardine hoch züngelten. Andere ergriffen mit ihrer glühenden Fingern nach der Lampe, deren Stoff-Schirm im Nu verglühte. Mit einem schleifenden Krachen brachen offensichtlich die brennenden Möbel zusammen, als meine Mutter mich wegzog und in ihrer Verzweifelung noch mal zurück wollte zu unserem brennenden Haus, um die Federbetten zu holen…
Am nächsten Tag, ich musste wohl doch unter der Brücke im Schoß meiner Mutter eine Zeit lang geschlafen haben. Meine Mutter hatte plötzlich einen kleinen Handwagen und wir warfen unsere dürftigen Habseligkeiten hinein und begaben uns auf den Weg zu meiner Großmutter am anderen Ende der Stadt. Wir hofften, dass dort wenigsten ein Unterschlupf für uns stehen geblieben war.
Meine letzten Gedanken, als wir unseren mühseligen Weg durch die rauchenden Trümmerberge suchten, drehten sich um eine Zigarre. Die hatte im Glasbuffett unserer Kredenz im Wohnzimmer in einem langen Zylinder gestanden. Mein Vater wollte sie rauchen am ersten Tag des Sieges der Deutschen Wehrmacht.
Dieser Sieg fiel aus. Die Zigarre war im Höllenfeuer dieses Vernichtungs-Wahnsinns verbrannt, ohne geraucht zu werden.
Wir schleppten uns stolpernd über die Trümmer. Meine Mutter wurde immer wieder vom Schluchzen geschüttelt. Vater war irgendwo an irgendeiner Front im Osten. Ob er noch lebte? Das Mietshaus, wo meine Großmutter wohnte, stand noch. Die Zimmer waren dunkel. Statt der Fensterscheiben war Wellpappe davor genagelt.
Draußen an der Hauswand stand ebenfalls mit großen Lettern LSR und ein Pfeil zeigte nach unten. Das Bangen und die Angst gingen also weiter. Auf den Straßen wurde geschossen, als die durchziehenden Ami`s die Stadt für die russischen Soldaten räumten. Weiße Bettlaken hingen aus den Fenstern. Angst. Ungewissheit. Mutlosigkeit…Und wieder Luftschutzkeller und Angst und Kälte und Hunger. Die Erwachsenen hockten zusammengekrümmt in den Kellernischen und schworen immer wieder: „Nie wieder! Nie wieder Krieg!“

©lyrikdgr (5. März 2013)

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