Der Koffer, Autor Herbert Steingen

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Herbert Steingen
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Der Koffer, Autor Herbert Steingen

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Der Koffer

Marie Baumgärtner saß gedankenverloren an dem großen Eichentisch in der Küche, die nun bald nicht mehr ihre Küche sein würde. Sie seufzte abgrundtief, ihr Blick schweifte über die Regale mit den alten Messing- und Kupfertöpfen, über den neuen, modernen Herd mit dem Cerankochfeld, den sie sich vor kurzem angeschafft hatten. Der Gedanke tat weh, sie musste Abschied nehmen. In der Diele schlug die alte Standuhr die volle Stunde und bei dem tiefen, volltönigen Westminsterschlag stieß sie einen weiteren Seufzer aus und fuhr sich mit den Händen durch ihr schüttern gewordenes Haar. Sie liebte diesen Klang und das langsame, harte Klick-Klack des mächtigen Pendels, und der schwingende Pendel verursachte bei ihr ein eigenartiges Zeitgefühl, sie war sich dabei der Ewigkeit mehr bewusst als sonst. Ihre Gedanken schweiften zurück, erst langsam und ungeordnet, aber dann immer klarer, wie vor zehn Jahren alles begonnen hatte….
Als Alois Baumgärtner an einem frühen September morgen 1995 mit seinem Traktor aufs Feld fuhr, war er noch ganz in Gedanken bei dem Gespräch, das er mit seiner Frau bis spät in die Nacht hinein geführt hatte. Sie hatten lange diskutiert, ob sie ihren landwirtschaftlichen Betrieb erweitern sollten, indem sie den Schweinestall und den Kuhstall vergrößerten, um so mehr Vieh zu halten. Denn mehr Schweine und mehr Kühe bedeuteten größeren Umsatz und vor allen Dingen mehr Subventionen aus Brüssel. Die Arbeit würde zwar auch mehr werden, aber sie waren noch relativ jung, sie würden die Arbeit schon schaffen, außerdem half ihnen ihr vierzehnjähriger Sohn Kurt so gut es ging, und Alois war davon überzeugt, aus seinem Sohn einen richtigen Bauern zu machen, damit er später den Hof weiterführen konnte. Bis dahin wird aber noch viel Wasser durch die Donau fließen, hatte seine Frau Marie zu ihm gesagt
Alois hatte den Hof auch von seinem Vater geerbt, so dass der Hof weder verschuldet war noch irgendeine Pacht anfiel. Für die Betriebserweiterung würden sie zwar ein größeres Darlehen aufnehmen müssen, aber das haben Sie in zwanzig Jahren wieder zurückgezahlt, hatte der Filialleiter der hiesigen Sparkasse ihnen versichert, so wie der Betrieb läuft, und mit den Subventionen aus Brüssel schaffen Sie das locker. Jedenfalls war er mit seiner Frau heute Nacht übereingekommen, dieses Wagnis einzugehen, und morgen wollten sie ….
Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. Etwas Zischendes, Fauchendes fegte über seinen Traktor hinweg und zog eine dicke, schwarze Rauchfahne hinter sich her. Starr vor Schreck hielt er seinen Traktor an und konnte sehen, wie nur hundert Meter vor ihm ein kleines Flugzeug in sein Feld stürzte. Es gab einen dumpfen Schlag und das Geräusch von kreischendem Metall, dann war es totenstill. Alois überlegte nicht lange, er sprang aus seinem Traktor und rannte zu der Absturzstelle, wohlwissend, dass die Maschine jeden Moment explodieren und in Flammen aufgehen konnte. Atemlos erreichte er den Unglücksort. Das Cockpit hatte sich tief in den weichen Ackerboden gebohrt, es war total zertrümmert, der Pilot war von einem Gewirr von verbogenem Metall und Plastik eingeklemmt, er bewegte sich nicht und schien bewusstlos, oder vielleicht war er auch tot, dachte Alois mit Entsetzen. Die rechte Tragfläche war abgerissen und nur noch durch einen Schlauch mit dem Rumpf verbunden, und aus dem Schlauch floss Benzin, Alois konnte es sofort riechen und er begriff, dass die Maschine jeden Moment in die Luft fliegen konnte. Unter der Tragfläche lag eine zweite Person, auf die das Benzin wie aus einem Wasserhahn heruntertropfte. Ohne zu zögern packte Alois die Person an den Füßen und zog sie unter der Tragfläche hervor. Es war eine Frau und sie stöhnte dabei laut auf. Mit der linken Hand hielt sie einen Koffer umklammert. Ohne Rücksicht auf ihre Verletzungen zog Alois sie weiter von der Maschine weg, wobei sie den Koffer nicht losließ. Ihm war klar, dass sie verloren war, wenn das Benzin sich entzündete. Als er sie etwa zwanzig Meter aus der Gefahrenzone geschafft hatte, geschah es. Das Benzin entzündete sich am heißen Motor und eine gewaltige Stichflamme schoss mehrere Meter in den Himmel. Er spürte die sengende Hitze, aber sie waren weit genug entfernt, dass sie keinen weiteren Schaden nahmen. Die Frau schlug die Augen auf, sie war wohl bei vollem Bewusstsein und hatte alles mitbekommen.
„Danke“, sagte sie nur mit schwacher Stimme.
„Bleiben Sie ganz ruhig, ich hole Hilfe.“
Er nahm sein Handy, wählte die Notrufnummer der Polizei und schilderte in knappen Worten den Unfall.
„In ein paar Minuten ist der Notarzt da und wird Sie versorgen“, tröstete er die Frau, denn er selber konnte nichts tun.
„Danke, dass Sie mich da rausgeholt haben“, sagte sie nocheinmal. Alois nickte nur und sah sie schweigend an. Sie war noch sehr jung, schlank und hatte ein fein geschnittenes Gesicht, von dem trotz einer klaffenden Wunde an der Stirn etwas faszinierendes ausging. Sie trug einen schwarzen, engen Hosenanzug, der ihre weibliche Figur voll unterstrich. Mühsam versuchte sie nun, den linken Arm mit dem Koffer an sich zu ziehen. Sie schien jedoch starke Schmerzen zu haben, denn sie gab den Versuch wieder auf. Sie schaute Alois an und lächelte etwas.
„Können Sie mir noch einen Gefallen tun?“
Alois schaute sie erstaunt an.
„Natürlich, sagen Sie mir es nur. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun.“
„Können Sie den Koffer für mich aufbewahren, während ich im Krankenhaus bin, ich komme ihn dann wieder abholen. Wenn ich das hier überlebe“, fügte sie nach kurzem Zögern hinzu.
„Sie werden das hier überleben, ganz bestimmt. Der Notarzt wird gleich hier sein und dann wird man Ihnen helfen.“
Er versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken, denn er musste in diesem Moment mit ansehen, wie das Feuer nun auch das Cockpit mit dem Piloten erfasste. Alois hoffte unter diesen Umständen, dass der Pilot schon vorher tot gewesen war. Bei dem Anblick wurden ihm seine Knie doch etwas wackelig, er nahm der verletzten Frau, die die Augen wieder geschlossen hatte, den Koffer aus der Hand und setzte sich einige Meter entfernt auf den Koffer. Kurze Zeit später hörte er die Martinshörner von Polizei, Notarzt und Feuerwehr. Danach ging alles relativ schnell. Die Feuerwehr löschte das brennende Flugzeug, die Frau wurde kurz versorgt und dann in den Rettungswagen befördert, und Alois schilderte der Polizei den Unfallhergang, wobei ein Pressevertreter, der mittlerweile auch eingetroffen war, ebenfalls alles mitschrieb und jede Menge Fotos schoss. Nachdem der Brand gelöscht war, wurde auch die verkohlte Leiche des Piloten geborgen. Die Feuerwehr blieb noch vor Ort, um den Brand abzusichern, die Polizei sperrte die ausgebrannte Maschine großräumig ab und dann konnte Alois wieder nach Hause gehen. Automatisch nahm er den Koffer, der bisher von niemandem beachtet worden war, an sich und marschierte zu seinem Traktor. Der Schreck war ihm mächtig in die Glieder gefahren und er hatte keine Lust mehr, die geplante Feldarbeit weiterzumachen. Als er zu Hause ankam, war seine Frau Marie im Kuhstall beschäftigt, sie hatte von dem ganzen Drama nichts mitbekommen. Sie sah sofort, dass mit ihm etwas nicht stimmte, sie gingen in die Küche, setzten sich an den großen Eichentisch und nachdem Alois zwei klare Schnäpse getrunken hatte, erzählte er seiner Frau, was er soeben erlebt hatte.
Sie war mächtig stolz auf ihren Alois.
„Du bist ja ein Held, du hast der Frau das Leben gerettet. Und was ist in dem Koffer drin?“
Der Koffer stand mitten in der Küche, wo Alois ihn abgesetzt hatte. Er schien eine gewisse Verlockung auszustrahlen, dass jemand ihn öffnete, obwohl er ziemlich mitgenommen aussah. Es war ein ganz normaler, dunkelblauer Schalenkoffer, eine dicke große Schramme, die wohl von dem Unfall stammte, lief quer über eine Frontseite, aber auch sonst zeugten viele kleine Kratzer, Dellen und zum Teil abgekratzte Aufkleber davon, dass er schon viele Reisen mitgemacht hatte. Er hatte nur rechts und links kleine Schnappschlösser ohne Zahlenkombination, und die Schnappschlösser sahen nicht so aus, als stellten sie ein Hindernis für das Öffnen des Koffers dar. Der Koffer wurde mehr von einem dicken, schwarzen, speckigen Lederriemen zusammengehalten, der durch den Tragegriff hindurch um den Koffer gespannt war.
Alois schüttelte den Kopf und lächelte.
„Weib, sei nicht so neugierig, das geht uns nichts an.“
Marie Baumgärtner fügte sich, obwohl sie nur zu gerne in den Koffer geschaut hätte. Der Koffer wurde in den großen, eichenen Dielenschrank gestellt, der direkt neben der alten Standuhr stand. Am nächsten Tag stand alles groß in der Zeitung und Alois wurde als Held und Lebensretter gepriesen. Aber schon am Tag darauf wurde seine Heldentat von anderen weltpolitischen Ereignissen, die meistens sehr negativ waren, abgelöst. Die Tage vergingen, die Erinnerung an das Geschehene verblasste, weil nun die Erweiterung ihres Hofes in den Vordergrund rückte. Es war alles fertig geplant und nachdem nun die Sparkasse die Gelder bewilligt hatte, konnte mit dem Umbau begonnen werden. Etwa drei Wochen nach dem Flugzeugabsturz stieß Alois zufällig auf den fremden Koffer in dem Dielenschrank, und ihm wurde bewusst, dass die Frau aus dem verunglückten Flugzeug ihren Koffer bisher nicht angeholt hatte. Ob sie ihn vergessen hatte?
Bei der nächsten Gelegenheit erkundigte sich Alois bei der Polizei, in welchem Krankenhaus die Frau gelegen hatte und dort erfuhr er, dass die Frau kurz nach der Einlieferung gestorben war. Ein Angehöriger hatte sich um die Leiche gekümmert und alles geregelt. Alois war geschockt, er hatte fest damit gerechnet, dass die Frau überleben würde. Was sollte er nun mit dem Koffer machen?
„Jetzt können wir ihn ja öffnen“, sagte seine Frau mit einem neugierigen Blick auf den Koffer.
„Nein“, sagte Alois. Vielleicht gibt es Kinder oder Erben, die sich an den Koffer erinnern. „Die werden dann bestimmt auf uns zukommen.“
Und so verschwand der Koffer wieder im Dielenschrank, und während der reich verzierte kleine Zeiger der alten Standuhr neben dem Dielenschrank eine Runde nach der anderen drehte, geriet der Koffer wieder in Vergessenheit. Es verging ein Jahr, der Umbau wurde fertig und der Betrieb florierte. Nach der Jahrtausendwende und der Euroeinführung begann sich das Blatt jedoch zu wenden. Der Klimawandel machte sich auch in Bayern bemerkbar, es gab heiße und trockene Sommer, die Ernteverluste waren immens und die Baumgärtners mussten nun für die große Menge Vieh mehr Futter hinzukaufen als sie selber ernten konnten. Ihre Finanzplanung geriet durcheinander. Dann, im Jahre 2004, kam der größte Schock für Alois und Marie Baumgärtner. Ihr Sohn Kurt eröffnete ihnen, dass er den Hof nicht übernehmen werde, sondern in die Entwicklungshilfe gehen wolle, und das noch in diesem Jahr..
„Ich kann diese verlogene Agrarwirtschaft aus Brüssel und den USA gegenüber den Entwicklungsländern nicht mehr länger mitmachen“, sagte er seinen fassungslosen Eltern. „Ich weiß, dass das für euch das Aus bedeutet, aber ihr hättet es sowieso nicht mehr lange durchgehalten, es gibt immer mehr Ernteausfälle, alles wird teurer, eure Zinsbindung läuft ab, so dass ihr höhere Zinsen zahlen müsst. Kurzum, in Kürze seid ihr pleite, und durch meine Entscheidung könnt ihr euch nun früher darauf vorbereiten.“
Es entbrannte eine heiße Diskussion, in der ihr Sohn Kurt seine Zukunftspläne und seine Motivationen schilderte, während Alois und Marie immer wieder versuchten, ihren Sohn umzustimmen. Aber es half nichts. Für Alois Baumgärtner brach eine Welt zusammen, in den Wochen und Monaten nach dieser für ihn schockierenden Eröffnung ging es mit seiner Gesundheit rapide abwärts. Anstatt sich um eine geordnete Auflösung des Hofes zu kümmern, versank er immer mehr in eine Art Lethargie, er begann zu trinken und wurde immer schwächer. Marie musste für die Berwirtschaftung des Hofes eine Hilfe organisieren, die Geld kostete und damit das Ende noch beschleunigte…
Marie Baumgärtner wurde durch das Schlagen der Standuhr in der Diele aus ihren Gedanken gerissen. Dass das alles so enden würde, hätte sie vor zehn Jahren nicht im Traum gedacht. Ihr Mann war nun schon ein halbes Jahr unter der Erde, man hatte ihn im Frühjahr tot neben seinen Traktor gefunden, es war ein Herzinfarkt, der schnell und ohne Vorwarnung sein Leben beendet hatte. Ihr Sohn Kurt war nur kurz zur Beerdigung aus Äthiopien gekommen, wo er zusammen mit Karl-Heinz Böhm an dem Projekt Menschen für Menschen arbeitete. Dann war er wieder, nachdem er seine Mutter bei allen Formalitäten geholfen hatte, nach Äthiopien zurück geflogen, weil, wie er sagte, man ihn dort dringender brauchte als hier.
Nun saß sie hier als Witwe, allein und voller Gram und Schmerz ob des schweren Schicksals, das sie so getroffen hatte. Sie hatte noch einige Tage Zeit, ihre Sachen zu packen und in eine kleine Mietwohnung zu ziehen, der Hof war zwangsversteigert worden, und die Sparkasse hatte fast den gesamten Betrag kassiert, bis auf einen kleinen Rest, mit dem sie ihren Lebensunterhalt tätigen konnte. Sie erhob sich müde und schwerfällig und spürte wieder den Stich in der Brust, der ihr seit geraumer Zeit immer öfter zu schaffen machte. Was sollte sie groß mitnehmen? Die Mietwohnung war klein und die schöne alte Standuhr, die sie so sehr liebte, würde nicht hineinpassen. Sie ging in die Diele und öffnete den Dielenschrank. Da stand immer noch der dunkelblaue Schalenkoffer. Sie begriff selber nicht, warum sie ihn nicht schon lange entsorgt hatte. Natürlich hatte sie ihn irgendwann geöffnet, dafür war sie viel zu neugierig gewesen, aber der Inhalt war enttäuschend, zumindestens für sie. Er war voller schmutziger Damenwäsche, Spitzendessous und Stringtangas, die auf einen gewissen erotischen Lebenswandel schließen ließen. Sonst hatte sie nichts in dem Koffer gefunden, irgendwie hatte sie auch eine Abscheu davor gehabt, in der schmutzigen Wäsche herumzuwühlen. Ihrem Mann hatte sie nichts davon erzählt, weil sie nicht wollte, dass er beim Anblick dieser Reizwäsche auf dumme Gedanken kam. Aus ihr unerklärlichen Gründen hatte sie den Koffer wieder zugeschnallt und in den Schrank gestellt. Hier stand er nun, herrenlos und mit einer Staubschicht bedeckt und Marie hatte den Eindruck, als wäre der Koffer zeitlos und mit der alten Standuhr irgendwie verbunden. Wieder schlug die Uhr den Westminsterschlag, den sie so sehr liebte, und noch während sie lauschte, bekam sie plötzlich eigenartig weiche Knie, der Ton der Uhr verzerrte sich und Koffer und Uhr verschwammen vor ihren Augen, dann brach sie zusammen.
Erst vier Tage später fand man Marie Baumgärtner, sie lag friedlich, mit einem feinen Lächeln im Gesicht, auf dem Dielenboden, gestorben an Herzversagen, lautete der Befund des Arztes.
Kurt Baumgärtner, der zum zweiten Mal in diesem Jahr aus Äthiopien anreisen musste, um nun auch seine Mutter zu beerdigen und alles zu regeln, durchstreifte Tage nach der Beerdigung den alten Hof, wo er viele Jahre seiner Kindheit gelebt hatte. Es kamen viele Erinerungen hoch und er hatte schon ein paar Gewissensbisse, in wie weit er mit seiner Entscheidung für das Schicksal seiner Eltern verantwortlich war. Aber jetzt war es zu spät. Eigentlich wollte er gar nichts mitnehmen, höchtens ein paar Bilder oder kleine Erinnerungsstücke von seinen Eltern. Dabei stieß er auf den dunkelblauen Koffer, den jemand neben den Dielenschrank gestellt hatte. Er erinnerte sich sofort an die Geschichte, die nun schon über zehn Jahre zurücklag, und wunderte sich, dass der Koffer immer noch hier herumstand. Ein innerer Zwang veranlasste ihn, den Koffer zu öffnen. Beim Anblick der Spitzenwäsche musste er still vor sich lachen, er stellte sich das enttäuschte Gesicht seiner Mutter vor, als sie den Koffer geöffnet hatte. Im Gegensatz zu seiner Mutter machte es ihm aber nichts aus, in der schmutzigen Wäsche herumzuwühlen. Er konnte es sich sogar nicht verkneifen, einen winzigen Stringtanga in die Hand zu nehmen, wobei er seine Fantasie nicht zügeln konnte, sich den passenden Inhalt dazu vorzustellen. Mehr unbewusst als bewusst kippte er kurzentschlossen den ganzen Inhalt aus und tastete den Koffer nach weiteren Fächern und Taschen ab. Dabei fand er einen DINA 5 großen Briefumschlag, der einen festeren Gegenstand enthielt. Kurt nahm den Umschlag und starrte ihn an. Gab es hier doch einen Hinweis auf diese fremde Frau? Er überlegte nicht lange, öffnete den Umschlag und nahm den Inhalt heraus. Kurt Baumgärtner bekam große Augen. In der Hand hielt er ein Sparbuch der Deutschen Bank von einer Filiale aus München, wie er schnell herausfand. Aber seine Augen wurden noch größer, als er die säuberlich mit einem Drucker eingetragen Zahlen sah. Er fuhr mit dem Finger an den Zahlen entlang, um die Anzahl der Nullen richtig zu erkennen. Es waren fünf Einzahlungen getätigt worden, und zwar im Jahre 1974, 75, 76 , 77 und 78 von jeweils zwei Millionen DM. Seitdem war wohl niemand mehr mit dem Sparbuch auf eine Bank gewesen, denn Zinsen waren nicht eingetragen und eine Umrechnung auf den Euro war auch nicht erfolgt. Kurts Gedanken begannen zun rasen. Das waren nun fast dreißig Jahre her, was musste da an Zins und Zinseszinsen zusammengekommen sein. Seine Hände zitterten leicht, als er das Sparbuch durchblätterte und einen zusammengefalteten Brief fand. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er den Brief gelesen und den Inhalt verinnertlicht hatte. Der Inhalt war kurz gefasst und besagte, dass derjenige, der im Besitz des Sparbuches und des dazugegörenden Passwortes war, auch rechtmäßiger Eigentümer des Guthabens sei. Ein weiterer Nachweis über die Herkunft des Geldes sei nicht erforderlich. Und weiter unten auf dem Brief stand unter P.S. Das Passwort lautet: Es war ein Wort aus einer Kombination von zehn Ziffern und Buchstaben.
Kurt Baumgärtner bekam trotz der absurden Situation einen Lachkrampf. Was hatten seine Eltern sich abgerackert und geschuftet, um zu überleben, um letztendlich doch zu verlieren, ohne zu ahnen, dass sie in ihrem Dielenschrank ein unglaubliches Vermögen lagerten. Er begriff nicht, dass seine Eltern den Umschlag nicht gefunden hatten. War es die falsche Scham vor der erotischen Wäsche? War es der anerzogene Glaube, dass der mit dieser Wäsche zweifellos verbundene Sex letztlich in der Glaubensvorstellung seiner Eltern Sünde war? Kurt erinnerte sich, dass seine Eltern strenggläubige Christen gewesen waren. Aber dann stellte er sich die Frage, was aus ihm und seinen Eltern geworden wäre, wenn sie das Sparbuch früher gefunden hätten. Wäre alles anders verlaufen? Das wahrscheinlich schon, aber wären sie auch glücklicher geworden? Er wusste es nicht. Dann wäre er heute bestimmt nicht in Äthiopien, um anderen Menschen zu helfen. Aber jetzt würde er richtig helfen können.
Drei Tage später verließ er in München die Deutsche Bank als Multimillionär. Es hatte keine Probleme gegeben, nachdem die Bank einen Tag gebraucht hatte, um alles zu überprüfen. Mit Zins und Zinseszins und nach Umrechnung auf den Euro besaß er nun gut dreizehn Millionen Euro. Und er wusste genau, was er damit zu tun hatte. Und er dankte im Stillen der fremden Frau, die durch ihren Tod so viele Jahre später so viele andere Menschen vor dem Hungertod retten konnte.


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Zuletzt geändert von Herbert Steingen am Mi 14. Mär 2012, 13:24, insgesamt 1-mal geändert.

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Re: Der Koffer, Autor Herbert Steingen

Beitrag von Herbert Steingen »

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