Keine Tränen mehr, Mia Mondstein

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Mia Mondstein
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Keine Tränen mehr, Mia Mondstein

Beitrag von Mia Mondstein »

Keine Tränen mehr

Eigentlich war dieser Abend von ihr ganz anders geplant gewesen, aber man erwartete von ihr in der Firma, wo sie nun seit einigen Jahren arbeitete, Belastbarkeit und vollen Einsatz. Denn die Konkurrenz, welche nur auf einen schwachen Moment von ihr wartete, wollte ihren Job. Ihr Nachfolgerin stand sozusagen schon vor der Tür – jünger, hübscher und zu allem bereit, was ihr Vorteile verschaffen könnte.
Sie konnte sich keine Fehler erlauben. Und es wäre ein Fehler, zu den Überstunden, zu denen sie immer wieder aufgefordert wurde, "Nein" zu sagen. Denn dann würde sie Schwäche zeigen, und schwach zu sein, das war in dieser Welt nicht "cool".
Also hielt sie auch heute ihren Mund und blieb wie immer länger als all ihre Kollegen. Mit keinem von ihnen hatte sie so etwas wie ein Freundschaftsverhältnis, geschweige denn sogar jemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Sie war allein und manchmal schien es ihr, als wäre sie für alle Anderen unsichtbar. So ist es auch an diesem Tag wie an allen vergangenen Tagen und wie auch wahrscheinlich an allen Tagen, die noch vor ihr lagen.

Während sie einen nach dem anderen verabschiedet, wie üblich mit leichtem Kopfnicken und das Getuschel ignorierend, sortiert sie die Papiere auf ihrem Schreibtisch. Niemand erwidert ihren Gruß. Alle gehen wortlos an ihr vorbei nach Hause.
Sie schaut aus ihrem Fenster im 8. Stock des Bürohauses. Wie friedlich die Stadt von hier oben aussah - all diese Lichter in den Fenstern. "Nach Hause" – Das klingt nach Wärme, nach Geborgenheit und Mitgefühl. Es bedeutet Gemeinsamkeit und Familie. Sie spürt, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammen zieht.
Die Uhr an der sonst nackten Wand verrät ihr, dass es schon fast 22 Uhr ist.
Und so schaltet sie ihren PC aus und nimmt ihren Mantel und ihre Handtasche mit den Schlüsseln, ihren Papieren und ein wenig Geld. Auf dem Weg zum Fahrstuhl kontrolliert sie noch die Geräte in der kleinen Teeküche, die sich auf ihrem Weg befindet. Ja, alles steht auf "AUS".
Sie löscht das Licht, und geht den langen Flur entlang. Wie viele sind wohl schon auf diesem grauen schmutzigen Belag gekommen und gegangen ? Das fragt sie sich jeden Abend. Erschöpft fährt sie mit dem Fahrstuhl am Ende des Flures hinunter ins Erdgeschoß. Während dieser sich langsam leise quitschend mit ihr in die Tiefe bewegt, hält sie wie immer die Luft an. Erleichtert verlässt sie den Lift und schließt die Haustür des Bürogebäudes hinter sich. Sie steht in der kühlen Nachtluft und atmet tief und hörbar aus.
Schnellen Schrittes ging sie zu ihrem im Hof abgestellten Wagen, denn der Parkplatz war unbeleuchtet und menschenleer.
Als sie im Auto saß, fiel alle Anspannung des Tages von ihr ab. In ihrem Kopf drehte sich alles und sie starrte ins Dunkel wie auf einer Suche. Sie spürte ihre Tränen, aber sie hatte nicht die Kraft, sie fortzuwischen. Sollte so ihr Leben aussehen ? Würde sie denn niemals so etwas wie Glück empfinden dürfen ?

Heute vor drei Jahren hatte sie bei einem ihrer seltenen Restaurantbesuche einen Mann kennen und lieben gelernt. Als sie ihn traf, erschien es ihr wie eine Hoffnungslicht, was für ein schöneres erfüllteres Leben steht. Es war reiner Zufall, dass er in einer dieser Firmen, für die Ihr Büro die Verwaltungsarbeiten übernommen hatte, arbeitete. Er war ganz anders wie sie selber, so voller Leben, voller Ziele und Wünsche und voller Mut und Kraft. Bei ihm fand sie Trost und Wärme, wenn sie ihn noch abends spät nach der Arbeit besuchte und manchmal auch über Nacht blieb.
Schon ein paar Monaten nach ihrem ersten Date suchten sie sich eine gemeinsame Wohnung. Er schien sich auf ein Leben mit ihr zu freuen und ihr erschien dieser Schritt logisch vernünftig. Sie würden dann noch viel mehr Zeit haben für sich und ihre Liebe.

Doch schon zwei Tage nach dem Einzug in die neue kleine gemeinsame Wohnung merkte sie, daß er sich veränderte. Er berührte sie nicht mehr zärtlich und vermied jeglichen direkten Augenkontakt. Sie stritten sich über Kleinigkeiten und er wollte nicht jeden Abend ihrem, wie er sagte, Gejammer zuhören.
Er hatte seine Arbeit und sie die ihre. Seiner Meinung nach, hatte jeder seine Rolle im Leben zu spielen, seine Aufgabe zu erfüllen und sich durchs Leben zu boxen so gut es ging.
Bald ging er allein aus, da sie noch nicht zuhause oder zu müde war. Und wenn sie da war, sagte er nur: "Lass mich allein gehen. Da sind nur Kollegen und kluge Leute. Was wir uns da erzählen, das versteht du sowieso nicht. Und ich kann auch nicht immer auf dich achten, was du tust oder machst." Er gab ihr das Gefühl, dumm zu sein und dass er sich schämen müsste, weil er mit ihr zusammen war.
Manchmal schlief er auch schon, wenn sie heim kam. Und wenn er noch wach war, war er noch lange mit etwas beschäftigt und wollte nicht gestört werden. Dann ging sie traurig zu Bett, und er wartete, bevor er sich hineinschlich, bis sie eingeschlafen war. Sie lebten nicht miteinander, sondern nur nebeneinander her.
"Dann lieber allein", dachte sie oft.

Mit diesem Gedanken kommt sie auch heute Nacht an dem Haus an, wo sich im ersten Stockwerk ihre Wohnung befand, die sie schon lange nicht mehr ihr Zuhause nannte.
Nie wußte sie, was sie hier erwartete. Sie parkt ihren Wagen, steigt aus und schließt die Türen. Das ganze Haus ist dunkel und schmerzhaft still. Der Mond, der sich durch die Wolken schiebt, wirft ein unheimliches, fahles Licht auf die Hauswand und den Weg zur Eingangstür. Die Schatten gleichen Monstern, die drohend nach ihr zu greifen scheinen. Sie schaut hinauf zum Küchenfenster. Auch dort ist kein Licht zu sehen.
Sie geht schneller. Mit vor Nervosität zitternden Finger schließt sie die Haustür auf, zieht ihre Schuhe aus und schleicht durchs Treppenhaus nach oben. Wieder lauscht sie, aber es bleibt still, als sie die Tür öffnet. Leise hinein ! Ihre Tasche stellt sie in die Ecke, wo sie immer steht, und hängt den Schlüssel an den Haken neben dem Notizblock in der Küche. Ihre Schuhe und ihren Mantel lässt sie einfach auf den Boden fallen. Sie ist so müde, dass sie kaum noch stehen kann.

Doch bevor sie schlafen geht, möchte sie noch einen Tee trinken. Ostfriesisch und mit viel Honig, so wie sie ihn mag. Sie geht in die Küche und nimmt ihre mit Herzchen und Bärchen bedruckte Tasse aus dem Hängeschrank. Diese Tasse erinnert sie an ihre Kindheit, an die Zeit, als noch alles so ganz anders war, so voller Träume und Hoffnungen.
So geht sie mit ihrer Lieblingstasse und einem Teebeutel in der Hand zum Küchentisch. Nun noch schnell Wasser aufsetzen – und sie dreht sich um nach dem Wasserkessel, der auf dem Herd steht. In dem Moment sieht sie den Zettel. Dort liegt er, und als sie ihn näher betrachtet, erkennt sie auf ihm ein paar gekritzelte Zeilen in der Handschrift ihres "Mitbewohners". Sie beginnt zu zittern. Noch bevor sie seine Nachricht gelesen hat, befälltl sie eine Vorahnung. Sie fühlt sich so leer und einsam.
Mit dem Stück Papier in der Hand sackt sie auf den Küchenboden. Dort liest sie zusammengekauert und mit verschwommenem Blick:

„Bitte verzeih mir und versuche zu verstehen.
Ich kann nicht länger da stehen und zusehen, wie du zugrunde gehst und mich mitreisst. Erst habe ich nächtelang um dich geweint. Doch jetzt habe ich den Mut zu gehen, und ich werde nicht zurückkommen.
Eine Frau, die ich bei einer Firmenfeier kennen gelernt habe, hat mir angeboten, in ihrer Villa mit ihr zu wohnen, und ich habe nicht "Nein" gesagt. Ihr Vater hat selbst eine Firma. Und wenn ich es schlau anstelle, habe ich beruflich und finanziell ausgesorgt und kann mir all meine Wünsche erfüllen. "Liebe" wird überbewertet, nur Erfolg zählt im Leben. Mit dir zusammen komme ich nicht vom Fleck.
Und all deine Träume, deine Hoffnungen in uns, in mich, hängen mir zum Hals raus.
Ich verlasse dich, denn ich kann dich nicht retten. Uns verbindet nichts – wir sind zu verschieden.Such dir einen Anderen. Ich kann und ich will nicht mehr !
Ich habe keine Tränen mehr !"

Sie versucht, das alles zu begreifen. Viele leere endlose Stunden denkt sie nach, wie es so weit kommen konnte. Doch dann wird ihr klar: Es hatte nie einen Sinn mit ihnen. Es war alles nur ein Traum gewesen. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt, doch ihr Gegenüber spielte ein ganz anderes Spiel. Es war besser so. Jeder musste seinen Weg gehen ohne den Anderen. Glück bedeutete für sie etwas anderes als für ihn.

Die Stunden vergehen und noch lange sitzt sie wie betäubt auf dem Küchenboden. Es wird schon draussen hell, als sie sich ins Schlafzimmer schleppt. Sie zieht den Reißverschluß am ihrem Rock auf und lässt diesen einfach auf den Boden gleiten.
Noch mit Bluse und Strümpfen bekleidet legt sie sich auf das Bett. Dann fällt sie in einen ohnmachtsähnlichen traumlosen Schlaf - mit dem zerknüllten Papier noch in der geballten Faust.
Sie hat keine Tränen mehr, um um ihn zu weinen.

(c) Mia Mondstein

Roland Förster
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Re: Keine Tränen mehr, Mia Mondstein

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