Die alte Frau und ihre Puppe, Christine Matha

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1. Sinnbringerbuch
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Die alte Frau und ihre Puppe, Christine Matha

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Die alte Frau und ihre Puppe

Clara hätte ihrer Freundin, die sie gebeten hatte, sie eine Stunde lang im Pflegedienst zu vertreten liebend gerne nein gesagt, aber Felicita hatte so inständig darauf gedrängt. Sie konnte ihr schlecht etwas abschlagen, Felicita kam wie sie aus Südamerika und arbeitete wie Clara in der Altenpflege. Clara kannte die von der Freundin Betreute und wusste dass sie ein schwerer Fall war und schon etliche Pflegerinnen gewechselt hatte.
Die Signora Lina war permanent schlecht gelaunt und ihr Lamento war ebenso pausenlos wie monoton. Wenn Felicita nur einem Moment lang die Seniorin allein ließ, um die Hausarbeit zu erledigen, wurde das Jammern noch inständiger und der Ruf nach ihr hörte nicht auf, bevor sie nicht wieder in ihrer Nähe war. In den letzten Monaten hatte sich ihre Krankheit immer mehr verschlechtert und Felicita erzählte, dass es zunehmend schwieriger werde, sie zufrieden zu stellen. Man hätte vom Sanitätsdienst einen Gehwagen bekommen können, dann wäre es für Felicita leichter gewesen, sie auszuführen, aber das kam für Lina nicht in Frage, Sie bildete sich ein, der Rollstuhl würde ihr das Mitgefühl der Passanten sichern und da sie sich ihr Lebtag lang als Mittelpunkt gefühlt hatte, versuchte sie jetzt mit allen ihr zu Verfügung stehenden Mitteln dieses Gefühl nicht zu verlieren. Sie hatte auch Clara gegenüber bereits über ihre Pflegerin geschimpft, sie sagte allen, dass diese Felicita sich einfach nicht unterordnen wollte und sich nicht benahm wie eine Dienstbotin sich zu benehmen hat.
Nach ihrem achtzigsten Geburtstag hatte die Signora Lina es von einem Tag zum Andern aufgegeben in der Wohnung herum zu tippeln, sie saß jetzt nur noch den ganzen Tag im Rollstuhl, was sie aber nicht hinderte Felicita auf Trab zu halten. Diese hatte erst mühsam lernen müssen, dass es besser war die Launen ihres Schützlings zu ignorieren, wenn sie überleben wollte, denn Lina hatte jeden Tag etwas an ihr auszusetzen oder sich zu beklagen, weil niemand in ihrem Leben sie jemals verstanden hatte und sie jetzt in die Hände einer dummen und gefühllosen Bauerntrampel aus den Anden geraten war. Ihre Wünsche und Beschwerden hämmerten pausenlos auf Felicita ein, die für sie ihre Dienerin war. Es gab dann auch Momente in denen sie ihrer Pflegerin dankbar war, aber ihre Dankbarkeit war sporadisch und Felicita wusste, dass es nie lange dauerte bevor sich die Signora wieder daran erinnerte, wer die Herrin war.

Clara sollte ihr, also die Medizinen die Felicita bereit gestellt hatte, verabreichen und sie dann langsam zu Bett bringen. Und sobald die alte Dame eingeschlafen wäre, konnte sie nach Hause gehen.
Als Clara in die abgedunkelte Wohnung kam, saß die alte Dame auf dem Rollstuhl vor dem laufenden Fernseher. Sie begrüßte Clara mit einem unverständlichem Lispeln. Clara setzte sich neben sie und wurde von Lina sehr eingehend gemustert. Felicita hatte ihr bereits gesagt, dass ihre Seniorin alle jüngeren Frauen unter die Lupe nehme, um sie kritisieren zu können. Die Medizinen standen auf dem Tisch und Clara fing an die Tropfen auf einem Teelöffel zu dosieren, wie es ihr aufgetragen worden war. Aber Lina wollte sie nicht einnehmen, lallte nur dauernd, wo Felicita wieder einmal sei, statt sich um sie zu kümmern. Sie kommt gleich wieder, sagte Clara verlegen und hat mir aufgetragen Ihnen die Medizinen zu geben. Lina schaute sie mit ausdruckslosen Augen an und sagte etwas Unverständliches. Felicita hatte gelernt die Worte von ihren Lippen abzulesen. Clara bewunderte sie dafür, Felicita war für die Altenpflege einfach wie geschaffen, ihr selbst ging die Arbeit mit den Alten immer noch nicht leicht von der Hand.
Seit sie in der gleichen Stadt arbeitete, hatte sie bereits ein paar Mal die Signora Lina mit ihrer Freundin zusammen getroffen, aber jetzt fand sie sie wie um Jahrzehnte gealtert und nur noch dürr und grau wie ein abgerissener Ast von einem Winterbaum. Sie musste sie wiederholt bitten bis Lina endlich die Tropfen schluckte. Als nächstes kam die Schlaftablette: auch hier brauchte es eine Weile, bevor sie sich überreden ließ und sie einnahm. Jetzt blieb noch die Aufgabe sie zu Bett zu bringen. Clara schob sie langsam ins Schlafzimmer, während Lina klagte, sie wolle nicht schlafen gehen. Clara solle bei ihr bleiben, ihr Gesellschaft leisten. Aber Felicita hatte ihr aufgetragen, sie zu Bett zu bringen, wie sie es gewohnt war und wenn sie erst einmal im Pflegebett lag, konnte nichts mehr passieren und sie hätte heimgehen können. Lina war bereits im Nachthemd, ein verwaschenes, nur bis zu den Knien reichendes Hemd, das wie Lina selbst grauweiß war. Felicita hatte schon erzählt, wie wenig Lina auf Unterwäsche hielt, während sie sich sonst für ihr Äußeres jede Woche sich zum Friseur begleiten ließ. Mit Claras Hilfe setzte sie sich auf dem Bettrand und blieb dort regungslos sitzen. Unwillkürlich schaute Clara auf die dünnen, weißen Beine, die die alte Dame unter dem Nachthemd hervorzog, mit einer Bewegung die kokett wirken sollte, aber für Clara peinlich war. Linas Gesicht glich dem eines kleinen Raubvogels, aus dem ihre scharfe Adlernase wie ein Schnabel hervorstach und die so dünnen Beine ließen sie an eine Krähe denken, von der sie jetzt misstrauisch beäugt wurde.
„Wenn Sie sich hinlegen, heben Sie es bequemer“ sagte Clara und verbarg ihre Ungeduld so gut es ging, dann nach endlos scheinenden Minuten, ließ sich die Signora von ihr helfen. Ihre Freundin hatte ihr gesagt, dass sie es gut allein schaffe sich hinzulegen, aber dass sie trotzdem immer Hilfe wollte. Ihre Krankheit war im Anfangsstadium, aber Lina beharrte darauf, dass es das Endstadium sei. Sie wollte bedient werden, wie sie es gewohnt war. Immer war sie umsorgt und bedient worden, aber jetzt im Alter fühlte sie sich von allen verlassen. Ihr einziger Sohn hatte die Pflegerin angestellt und seine wöchentlichen Besuche waren reine Pflichtsache, er blieb nie länger als zehn Minuten und wurde sehr schnell nervös. Zu Felicita hatte er gesagt, diese Frau wäre nie mütterlich gewesen, immer sei er von Kindermädchen betreut worden und seit er denken konnte, hatte sich alles nur um ihre Person gedreht. Der verstorbene Vater sei ihr Opfer gewesen, er, aber würde es nicht mehr sein. Lina war die einzige Tochter einer begüterten Familie gewesen und hatte ein Leben lang immer ihren Willen durchgesetzt. Jetzt blieb ihr als Druckmittel nur ihre Krankheit, aber ihr Sohn hatte zu Angelica schon öfters gesagt, dass er nicht mehr auf Mamas Launen herein falle, er hatte seine eigene Familie und hatte ihr mehrmals klargemacht, dass sie sich mit der neuen Pflegerin unbedingt vertragen müsse, wenn sie nicht im Altersheim landen wollte.
Das Leben zeigte ihr jetzt seine andere Seite und Lina war darauf überhaupt nicht vorbereitet …
Clara half ihr und holte ihre stocksteifen Beine aufs Bett.
Einmal ausgestreckt fing sie an ihr Nachthemd hochzuziehen und schaute die junge Frau dabei wie fragend an. So als ob sie unsicher wäre, ob sie es tun solle oder nicht. Wollte sie ihr ihren Unterleib zeigen? Vermutlich dachte sie einen Moment lang es zu tun. Tat es dann aber gottlob nicht. Clara schob das Gitter hoch und setzte sich daneben. „Wo ist Felicita ?“ fragte die Signora wieder. „Ich werde es meinem Sohn sagen, dass sie mich immer allein lässt.“ Clara wusste, dass sie es nicht tun würde, weil ihr Sohn überhaupt nicht auf sie hörte, er war heilfroh seine Mutter versorgt zu wissen. „Sie kommt gleich,“ sagte Clara beschwichtigend. Sie wartete schon ungeduldig auf die Wirkung des Schlafmittels. Immer wieder ging ihr Blick zum Wecker. Wozu, dachte sie, braucht die alte Frau noch einen Wecker? Es war ein großer, alter Wecker wie man ihn früher hatte. Die Nachttischlampe verströmte ein sanftes bläuliches Licht; Lina wollte immer Licht haben, vor dem Dunkel fürchtete sie sich am meisten. Endlich sah Clara, dass sie eingeschlafen war. Das kleine graue Vogelgesicht schien im matten Lampenlicht noch viel spitzer und fahler zu sein.
In der Ecke stand ein kleiner Beistelltisch und darauf thronte eine große Puppe, die Clara erst jetzt bemerkte. Es war eine alte Puppe, vermutlich aus den 30er Jahren, als Lina noch ein Kind war. Sie trug ein langes hellblaues und verblichenes Kleid voller Rüschen; eine sehr elegante Puppe, die nicht zum Spielen gemacht war, sondern nur bestaunt werden durfte. Im halbdunklen Zimmer strahlte die Puppe mit ihren großen blauen Augen eine geisterhafte Starrheit aus. Auf der einen Seite das aschgraue, jetzt bläulich scheinende Gesicht der alten Frau, auf der anderen Seite die Puppe mit den eisigen himmelblauen Augen. Clara versuchte sich vorzustellen wie Lina als kleines Mädchen gewesen war, als sie diese Puppe geschenkt bekommen hatte, aber es gelang ihr nicht. Ganz plötzlich überkam sie ein Gefühl von Beklemmung und Angst. Ihre Freundin hatte gesagt, sie könnte gehen sobald Lina eingeschlafen sei und ihr den Wohnungsschlüssel unter dem Abtreter vor der Tür lassen, denn sie wusste dass Clara für ihre Signora keine Sympathie empfand.
Sobald die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel, atmetet Clara tief auf…
Dabei war alles gut gegangen, Lina schlief und in kurzer Zeit würde Felicita wieder daheim sein. Auf dem Heimweg fing es an zu nieseln und jetzt merkte sie, dass sie ihren Schirm dort vergessen hatte. Aber sie dachte keinen Moment daran zurück zu laufen. Sie musste erst diesen an ihr haftenden Geruch von Verfall und Starre loswerden, ja, sie brauchte dringend eine Dusche, um sich davon zu befreien. Wie schaffte es bloß Felicita ihre Seniorin auszuhalten? Clara arbeitete als Haushaltshilfe bei einer rüstigen und humorvollen Seniorin; nie hatte sie den Verfall des Alters so gnadenlos vor Augen gehabt wie in dieser knappen Stunde und sie bewunderte ihre Freundin, der es gelang dieses kleine Bündel Elend trotz aller Launen und bösen Worte durch den Tag zu bringen. Von der Signora Lina gab es in der Regel nur widerwillige wenn nicht bösartige Bemerkungen und Felicita hatte ihr gesagt, dass Lina nicht an Demenz litt, denn in ihrer Boshaftigkeit war sie immer sehr luzide.
Und doch ertrug sie die kleinen und größeren täglichen Bosheiten, die eine alte, mit sich und der Welt hadernde Kranke für die junge, gesunde und sogar fröhliche Pflegerin bereithielt. Für Clara war das unzumutbar, aber Felicita wusste wie damit um zu gehen, auch wenn es manchmal hart an der Grenze ihrer Kräfte ging und sie sich wünschte daheim geblieben zu sein, wo der Verdienst zwar gering aber die Atmosphäre locker und entspannt war. Dann raffte sie sich aber immer wieder auf und dachte was man ihr im Kurs für Altenpflege eingeprägt hatte; es nie persönlich zu nehmen, es war eine Arbeit mit guten und schlechten Seiten, nur ein Job und keine Familie, selbst wenn man wie sie dort ein eigenes Zimmer hatte. Und es war eine Arbeit auf Zeit, also besser man blieb neutral freundlich und bewahrte Distanz zur Betreuten. Felicita hatte lange gebraucht um diese Distanz zu gewinnen, aber Lina hatte es ihr letztendlich leicht gemacht, in ihr war wenig Liebenswertes geblieben, das Alter hatte ihr alles geraubt was für sie zählte. Macht über die Männer und Luxus. Beides war verloren, die Macht hatte sie zusammen mit der Schönheit verloren, den Luxus verbot ihr jetzt der eigene Sohn, der ihr Bankkonto verwaltete und sich schon Sorgen machte, wie lange sie noch leben und wie viel Geld für die Pflege gebraucht werden würde.


Autorin Christine Matha

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